Warum ich aufhöre zu backen und anfange zu kochen

50 Jahre sind ein guter Zeitpunkt, um über das Leben nachzudenken. 50 Jahre – ein Schicksal, von dem ich dachte, das es mich niemals betreffen oder ereilen würde, dieses Wochenende war es so weit. Nach einem gemütlichen Brunch in Zürich – zu sechst als Familie, im Bewusstsein, dass diese Konstellation immer kostbarer und seltener wird – beschloss ich, den Weg nach Hause zu Fuss zu gehen. Ungefähr zehn Kilometer, den Berg rauf und wieder runter, durch Stadt, Gassen, Wald. Dieser Spaziergang war ein Geschenk an mich selbst. Zeit zum Nachdenken. Zeit, um über so etwas wie eine Zwischenbilanz nachzudenken.

Nach den ersten paar Schritten fiel mir dieses Graffiti ins Auge:

Und der Gedanke ploppte auf: Da hat sich jemand Ausdruck verleihen müssen. Vielleicht jemand, der oder die sonst nicht gehört wird. Und schwupps, hatte ich ein erstes Fazit: Ich werde gehört. Wow. Eine Erkenntnis, die sprachlos und dankbar macht. Auch wenn mir die Kinder am Familientisch oft überhaupt nicht zuhören: Ich werde gehört. Gott hört mich. Mein Mann und meine Freundinnen hören mich. Ich werde in meiner Familie und in unserer Gemeinde gehört. Auch da, wo ich arbeite. Dazu darf ich schreiben. Ich brauche keine grosse Reichweite. Aber ich gehöre zu den privilegierten Menschen, die in Beziehungen leben, in denen sie gehört werden und auch selbst anderen zuhören dürfen. Ich darf in meinem Umfeld erleben, dass Hören und Gehörtwerden zusammen gehören. Und dass ich ein Teil davon sein darf.

Was habe ich denn zu sagen?, stellt sich sofort die Frage. Ich glaube, nichts Umwerfendes, Weltbewegendes. Aber ich weiss mit tiefer Gewissheit: Ich trage Herzensschätze in mir. Manche von ihnen kann ich formulieren. Ein Schatz ist zum Beispiel meine Erfahrung, dass Gott verletzte Herzen heilen kann. Er kann Beziehungen heilen und neu machen. Er kann aus dem tiefsten Sumpf, aus Sucht und Depression, aus Menschenfurcht und Abhängigkeiten total und komplett frei machen. Gott kann mein Denken und Fühlen verändern und prägen und erneuern. Seine befreiende Wahrheit vertreibt Lügen. Mein Gott hat Schätze in mein Herz geschrieben. Nicht nur, aber vor allem aus Zerbruch und Schmerz heraus. Von diesen Schätzen darf ich sprechen und schreiben, explizit und implizit. Wie Hiob kann ich sagen: Ich weiss, dass mein Erlöser lebt. Das wurde mir an diesem Osterfest wieder sehr bewusst.

Ein nächster Punkt kommt dazu. Eine Entscheidung, die ich neu treffen will: Ein erfülltes Leben muss kein perfektes Leben sein. Ein kleines Beispiel war, dass die Einladungskarte einfach nicht gelingen wollte. Obwohl ich sonst leichthändig plotte, musste ich mehrere Anläufe nehmen, nur um fast zum Schluss festzustellen, dass ich nun doch das falsche Bild erwischt hatte. Ach ja, und auch an meinem Geburtstag war ein Kind übermüdet und entsprechend gelaunt. Das hippe Brunch-Lokal hatte noch genau zwei Croissants, als wir ankamen. (Ich bekam eines!) Kleinigkeiten. Klitze-Kleinigkeiten. Aber sie rufen mir zu: Okay ist gut genug. Ich beschliesse, mich dafür zu entscheiden, das Unperfekte zu umarmen und meine Vorstellungen immer wieder loszulassen. Die Idealvorstellungen wollen sich nämlich immer wieder einschleichen, unbemerkt und tückisch. Aber auch mit 50 wird das Leben nicht perfekt. Und ich will mich nicht von Idealen unterdrücken lassen! Sandra Geissler schreibt ihn ihrem neuen, sehr lesenswerten Buch Zwischen Gedanken über einen Ausflug mit ihrer Tochter: „Das Stückchen Glück findet sich nicht im absoluten Anspruch und auch nicht in der Perfektion, nicht im Streben nach immer mehr und nicht im Optimierungswahn. Das Stückchen Glück ist bescheiden und wird dir behutsam in deine geöffneten Hände gelegt.“ Genau so ist es, und das will ich mir merken. Immer wieder.

Auf meinem Spaziergang entdeckte ich „Guggu-Blümchen“, Immergrün und Schlüsselblumen. Meine verstorbene Grossmutter hatte mir, als ich Kind war, all diese Waldschätze gezeigt, und im Wald bin ich oft mit ihrer Stimme unterwegs. Sie hat damit eine Liebe zu allen kleinen, fast schon unscheinbaren Schönheiten in mich gelegt. Dafür bin ich ihr dankbar.

Ich denke weiter darüber nach, wie ich leben kann, damit meine Herzensschätze nicht in mir stocken, sondern durch mich weiterfliessen können. An einem Stille-Tag habe ich empfunden, dass ich das Backen loslassen soll. Diese Selbständigkeit hatte viele Funktionen für mich: Flucht aus dem drögen Kleinkinder-Alltag, Selbstbestätigung, Ausleben von Kreativität, Einkommen für Musikstunden und mein Studium… Es hat mir immer wieder Freude gemacht, aber längst nicht immer. Oft genug hat mich das Backen aus dem herausgerissen, woran mein Herz wirklich hängt: aus dem Schreiben, aus der Familie und aus den Jüngerschafts- und Gebets-Kursen. Nun ist fertig mit Backen auf Auftrag, ich gebe nur noch Kurse und backe für meine Familie. Dadurch habe ich viel mehr Zeit zum Kochen. Denn ich habe festgestellt, dass Liebe durch den Magen geht, vor allem TEENAGER-LIEBE! Es muss also was Vernünftiges und Zünftiges auf dem Tisch stehen, möchte ich meine Mannschaft sammeln. Und das will ich, denn die Beziehung mit meinen Kindern ist mir wertvoll. Ach ja, ich liebe die Teenagerjahre, ich liebe sie von ganzem Herzen! Es ist so schön, auf Augenhöhe mit meinen Kindern zu diskutieren. Sich zu streiten und sich dann wirklich und ehrlich zu entschuldigen und zu versöhnen. Zu erfahren, wie sie über das Leben denken. Zu sehen, wie sich ihre Beziehungen entfalten. Aber auch ihre Nöte beständig vor Gott zu bewegen. Weil die Zeit mit meinen Kindern begrenzt ist, möchte ich sie nicht mit Kuchenbacken für Aufträge verschwenden, auch wenn das schön war.

Das ist mein Leben. 50 Jahre. Einige Gedankensplitter wurden mir auf meinem Spaziergang mit Gott klar. Vieles wird noch sichtbar werden, sich schärfen, klären, oder von der Bildfläche verschwinden. Ich habe Entscheidungsmöglichkeiten, aber ich lebe das Leben, das mir geschenkt worden ist. Vieles habe ich gar nicht in der Hand. Meine Wahl ist mein JA zu meinem Leben. Nicht dem optimierten Leben, wenn doch nur… sondern mein Ja zum Hier und Jetzt. Zum Unperfekten und Halbgaren. Aber auch zum Schönen, zu all den Geschenken. Ich fühle mich unendlich geliebt und bin dafür unendlich dankbar. Ich will offene Augen und Ohren für Gottes Segnungen haben. Ich weiss, dass mein Erlöser lebt.

Festtafel, mir zu Ehren
Allerliebster Papa

6 Gedanken zu „Warum ich aufhöre zu backen und anfange zu kochen

  1. Nachträglich wünsche ich Ihnen alles Gute zum runden Geburtstag!Und danke für diesen Newsletter und die Erinnerung daran, dass genau dieses „unperfekte“ Leben trotzdem gerade so wertvoll ist wie es ist!Alles Gute!

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  2. So schön deine Gedanken zum 50ten, sie berühren mein Herz. Und ich befinde mich auch auf dieser „Kochen“ Reise, die so gar nicht meine Leidenschaft ist, aber ich spüre, so wichtig für meine Kids und unsere Family! Herzliche Grüße und Glückwünsche nachträglich

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  3. Liebe Sonja

    Danke für diese schönen und wertvollen Gedanken! Auch ich muss immer wieder das Unperfekte lieben lernen.

    Und alles Liebe & Gottes Segen zum Geburi!

    Herzlich, Daniela ……………………………….. Daniela Schenk-Lehmann Bodenrain 27 4533 Riedholz 032 530 55 31 ………………………………..

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