Die kalte Dusche, und wie ich wieder trocken wurde

Vor wenigen Tagen sass ich gemütlich schreibend auf dem Sofa, als das Telefon klingelte. Eine weibliche Stimme fragte, ob ich die Mutter von einem unserer Kinder sei. Ich bejahte. Was sich dann über mich ergoss, ist schwierig wiederzugeben. Nichts davon war erbauend. Ich erfuhr, wie schlecht sich mein Kind sehr oft benahm, und wie sehr ihr Kind darunter leide. Ich hörte, dass unser Kind nicht nur Probleme macht, sondern ein Problem ist, und dass wir als Eltern unsere Verantwortung schlecht, oder besser gesagt, gar nicht, wahrnehmen. Mir wurde jede Erziehungskompetenz abgesprochen. Dafür bekam ich den Ratschlag, mir „das Kind“ doch endlich mal genauer anzuschauen. Ich vernahm, dass sie für das Verhalten unseres Kindes auf der Stelle ein Dutzend Zeugen und sogar ein Handy-Filmchen aufbieten könne. Und ich wurde informiert, dass sie an meiner Stelle andere Massnahmen ergreifen würde, falls so eine Situation noch einmal vorkäme, und dass meine Frage nach der Gesamtsituation absolut unverständlich und unangebracht sei und darauf hinweise, dass ich komplett uneinsichtig wäre.

Da sass ich nun mit dem Hörer in der Hand und wusste kaum, wie mir geschah. Jeder Versuch einer Verteidigung führte noch weiter ins Bodenlose. Irgendwann gab ich es auf – ich war zu überrascht und geschockt. Natürlich weiss ich, dass unser Kind seine Gefühle nicht immer angemessen zum Ausdruck bringen kann und dass es oft heftig reagiert. Trotzdem war ich der Meinung gewesen, dass sich unser Kind in einer Reife-Phase befindet und sich dies auch in seinem weiteren Umfeld bemerkbar gemacht hatte. Gespräche mit Lehrpersonen und anderen Müttern noch am gleichen Tag wie das Telefongespräch bestätigten mir das. Ein zweiter Anruf, in dem ich die betreffende Mutter um Klärung mit allen Beteiligten bat, brachte keine Verbesserung, nur neue und fast noch härtere Anklagen.

Das eine Problem ist, dass wir Eltern sehr angreifbar sind. Wir machen täglich Fehler, und viele davon sind uns bewusst. Die eigenen Ansprüche und die Wirklichkeit klaffen oft weit auseinander, und wir fühlen uns oft unfähig, schuldig und hilflos. Ich kenne sehr wenige Eltern, die sich und ihre Entscheidungen nicht ständig hinterfragen. Und ich glaube, das geht nicht nur Eltern so, sondern jedem Menschen, der sein Herzblut für eine Sache hingibt. Das zweite Problem ist, dass auch unsere Kinder nicht perfekt sind. Der Kern des Vorwurfs war ja wahr: Unser Kind kann seine Gefühle nicht immer angemessen ausdrücken. Ja, es hat sogar mehr Mühe damit als andere Kinder. Das ist die Wahrheit, und die will ich auch nicht wegschieben, egal wie die Rückmeldung daherkommt. Aus diesen beiden Gründen – weil Vorwürfe Wahrheit beinhalten, und weil sie auf einen Boden der Unsicherheit und der Selbstanklage treffen – können solche Anklagen uns bis ins innerste Mark treffen. Was jetzt mit dem Wust aus Beschuldigungen, Anklagen und Vorwürfen? Ehrlich gesagt, fühlte ich mich wie ein Häufchen Elend. Und trotzdem wusste ich: Wollte ich in Frieden weiterleben, musste dieser Berg sortiert und abgetragen werden. Zu merken, dass ich wählen kann, gab mir neue Kraft und Entschlossenheit.

Zuallererst brachte ich eine konkret angesprochene Situation in Ordnung. Ich konfrontierte mein Kind mit der Aussage, und es bejahte, dass es falsch gehandelt hatte. Es musste sich für sein Verhalten entschuldigen, und wir bleiben im Gespräch darüber. Die anderen Vorwürfe konnten von keiner anderen Person bestätigt werden.

Als nächstes sortierte ich zwischen Wahrheit und Lüge. Ich sagte Ja zur Aussage, dass mein Kind sich falsch verhalten hatte. Ja, das ist wahr. Aber Nein dazu, dass er das IST. Es besteht nicht nur aus dieser Schwäche, da gibt es noch so vieles andere. Ich sage auch Nein dazu, dass sich das Kind nicht verändern wird, sondern anerkenne, dass es am Wachsen und Reifen ist. Es wird weitergehen, weitere Fehler machen, aber auch lernen. Ich sage weiter Ja dazu, dass wir nicht perfekt erziehen. Aber auch ein ganz klares Nein, dass wir unsere Kinder unfaires und/oder grobes Verhalten lehren oder vorleben. Ich sage auch Nein zur Aussage, dass Erziehung allein alles, was ein Kind tut, verantwortet. So gehe ich Schritt für Schritt die Anklagepunkte durch, entlarve Lügen und nehme, was wahr ist, an. Mein Boden wurde nach diesen beiden Dingen wieder geebnet, mein Stand fester.

Der nächste Schritt war dann schon fast klar… Vergebung. Vergebung ist für mich nicht mehr etwas, das ich als Christ tun muss, sondern ein Privileg. Zu dieser Sicht hat mir Monika Flach von Kingdom Impact verholfen. In einem Teaching der Serie „Leben mit dem Unsichtbaren“ erklärt sie, dass wir vor Jesus alles ausbreiten dürfen, was uns eine Person angetan hat. Den ganzen Haufen, im Detail! Und wir dürfen vor Jesus wie zu dieser Person sprechen, ihr alles hinknallen mit klaren Worten, ungeschönt. Diese Anklagen haben Raum. Sie sind für Gott kein Problem. Es ist wohl eher ein Problem für ihn, wenn wir unsere Gefühle unter den Teppich kehren. Und dann, nachdem ich meiner Seele Luft machen konnte – und vielleicht sogar noch von Gott höre, dass er es auch nicht in Ordnung fand – kann ich vergeben und alles loslassen, was mich und auch die andere Person gefangen halten würde. Nach der Anklage entlasse ich aus der Anklage. Einfach ein geniales Prinzip. Es gilt auch, wenn ich selber Busse tue. Da bin ich dann auch genau und spezifisch und ungeschönt und schiebe nicht alles in die „da wo ich gesündigt habe…“-Ecke. Ich musste der Frau die Art und Weise vergeben, wie sie zu mir gesprochen hat; ich musste ihr vergeben, dass sie meine Grenzen überschritten und mich beleidigt hat, und schliesslich musste ich mir auch selber vergeben, dass ich mich vor ihr zu verteidigen versucht habe.

An diesem Punkt kam totaler Frieden in die Situation. Und wie um der Sache noch die Krone aufzusetzen, empfand ich, dass Gott mich herausforderte, die zu „segnen, die mich verfluchen“. Ich konnte selber kaum glauben, dass ich dazu in der Lage war, aber ich war es und ich bin es noch immer. Voller Staunen und Dankbarkeit schaue ich auf die letzten Tage zurück: Sie waren voll von einem inneren Frieden. Ich kann an die Frau ohne Groll denken. Wenn ich jemandem davon erzähle, überwältigen mich keine Gefühle mehr. Da ist kein Grummeln im Bauch und auch kein Wunsch, ihr „mal richtig die Meinung zu geigen“. Aber das ist alles andere als mein Verdienst. Gott hat mir ein so gutes Auffangnetz geschenkt. Da war die kompetente und liebevolle Ratgeberin, deren erste Reaktion war: „Du weisst, dass das nicht stimmt, oder?“ Da war die Freundin, die mich gleich verstand. Da waren die treuen Weggefährtinnen, die sogleich für uns und für unser Kind im Gebet einstanden. Da war meine geistliche Begleiterin, die mich ermutigte, mich nicht einschüchtern zu lassen. Da war mein Mann, der sich treu und klar an meine Seite stellte.

Umgang mit Anklage war nie meine Stärke. Im Gegenteil, ich neige dazu, mich sehr oft selber anzuklagen. Wie oft ist es nicht genug, oder zuviel, was ich tue und bin? Ich bin schon an dem Punkt, wo ich mit einer Freundin zusammen der Anklage, so ich sie denn entdecke, ins Gesicht lache und sage: „Ah, du bist es nur!“ Die grösste Schwierigkeit, und gleichzeitig das Wichtigste, ist meiner Meinung nach oft das Sortieren von Wahrheit und Lüge. Es ist ja meist ein Gemisch von beidem! Weder eine Weigerung hinzuschauen noch ein ängstliches Kuschen oder Zurückweichen hätten der Situation Rechnung getragen. Ich war herausgefordert, meinen Stand einzunehmen und Position zu beziehen. Und dann diese mutig zu behalten. Ohne Unterstützung definitiv nicht möglich, jedenfalls nicht mir. Je länger desto mehr merke ich, dass tragfähige Beziehungen essentiell sind. Mit tragfähig meine ich, dass Freunde mir nicht nach dem Mund reden, sondern mich in Wahrheit und Liebe (bitte nicht das eine ohne das andere!) ermutigen. Ich wünsche mir sehr, dass ich dies auch für andere sein kann.

Von Herzen wünsche ich einen erholsamen, friedvollen Sonntag.

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7 Gedanken zu „Die kalte Dusche, und wie ich wieder trocken wurde

  1. Vielen Dank, für diesen Text! Er hat mich so bewegt. Und dein Weg mit dieser Geschichte umzugehen, ist großartig. Trotzdem blutete mir das Herz. Wie Menschen mit Menschen umgehen- oh Mann…liebe Grüße

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  2. Liebe Sonja, danke für diesen persönlichen Einblick! Deine Schritte, die Situation zu beruhigen, sind so hilfreich. Ich lerne auch gerade, wie wichtig das Segnen in solch einer Situation gerade für einen selbst ist. Und wie schade, dass Mütter sich oft wie die größten Feinde der nächsten Mutter benehmen. Ganz liebe Grüße, Jojo

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    1. Liebe Jojo, ich kann nur ehrlich segnen, wenn ich Heilung und Freiheit erfahren habe. Und trotzdem habe ich auch schon das Umgekehrte erlebt, nämlich dass das Segnen die Freiheit und Heilung bewirkt hat. Die Frage ist manchmal: Wo muss ich authentisch bleiben und meinen Schmerz ernst nehmen, wo überwinde ich meine Gefühle und handle einfach? Es bleibt spannend! 🙂 Herzliche Grüsse Sonja

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  3. Liebe Sonja! Mich hat es auch sehr berührt deinen Bericht zu lesen! Wie gut kann ich deine Gefühle nachvollziehen (als Mama von einem ziemlich wilden Jungen!) und wie hilfreich zu lesen, wie du mit der ganze Situation umgegangen bist!!!
    Mir hilft es immer wieder mit einer Freundin zu reden, die Grundschullehrerin ist (sie ist eine von den Menschen die mit „Wahrheit und Liebe ermutigen“). Wenn ich über ein bestimmtes Fehlverhalten von meinem Sohn verzweifelt bin rede sie das nicht klein, aber sie sagt mir dann (ganz entspannt): Christina, in all den Jahren in denen ich Kinder unterrichte kann ich nur sagen: Es gibt keine lieben Kinder. Es gibt nicht die Unschuldigen. JEDES Kind hat seine Schwierigkeiten, seine dunklen Momente und auch seine Stärken und sein Leuchten. Beides ist da. In jedem Kind. (und in jeder Mama :-)). Und das heisst es wohl anzunehmen (bei allem Wachstumspotenital das wir, und unsere Kinder, auch haben! ). Und mir geht es auch wie Sandra: mir schmerzt das Herz wie wir (Mütter) manchmal miteinander umgehen! Wie gut, wenn man auf Menschen trifft, die barmherzig sind, mit sich selbst und mit dem anderen. So jemand will ich werden…. du zeigst wie der Weg dahin aussehen kann. Danke. Wünsch Dir Segen und schick dir liebste Grüße und eine feste Umarmung!!!

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    1. Liebe Christina, danke für deine Zeilen. Ich finde auch, Grundschullehrerinnen sollten zur Standard-Ausrüstung von Mamas gehören… 😉 Ich habe auch zwei solche wertvollen Freundinnen und war schon so oft dankbar!! Und ja, mit der Unvollkommenheit zu leben, das bin ich sehr am Üben. Eine ganz liebe Umarmung zurück!!

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